Wie ticken wir richtig?
Lerchen und Eulen sind nicht nur interessante Tiere. Sie stehen auch symbolisch für den Zustand unserer inneren Uhr. Und die beeinflusst uns stärker, als wir denken. Der Chronobiologe Professor Dr. Jörg Stehle zeigt, dass jeder Mensch nach seiner eigenen biologischen Zeit lebt, dass es selbst einen Unterschied macht, wann wir essen oder Sport treiben, und erklärt, wie wir mit einem Jetlag besser umgehen können.
Wer kürzlich nach New York geflogen ist und mit dem Jetlag zu kämpfen hatte, hat sie gespürt, die eigene innere Uhr. In unserem Körper läuft fast alles in einem 24-Stunden-Rhythmus, der unter anderem dafür sorgt, dass morgens unsere Körpertemperatur und der Kortisolspiegel ansteigen, damit wir aufwachen. „Die innere Uhr sitzt in einem kleinen Kern im Zwischenhirn, dem Nucleus suprachiasmaticus. Es gibt sie schon, so lange es Leben gibt“, stellt Professor Jörg Stehle fest. Der Chronobiologe war bis 2020 Direktor des Instituts für Anatomie III der Goethe-Universität, ist mittlerweile im Ruhestand, bildet aber noch angehende Mediziner in Anatomie aus. Sein Lieblingsthema ist die innere Uhr, ein Überbleibsel unserer Vorfahren aus der Steinzeit. Es habe schon bei den Höhlenmenschen einen Selektionsvorteil ausgemacht, wenn diese wach wurden, bevor der Tag begann, erläutert er. „Wenn ich der erste war, der aus der Höhle kam, war ich auch der erste bei der Nahrung und dem Paarungspartner.“ Die Frühaufsteher, die sich also eher wie moderate Lerchen verhalten haben, setzten sich daher genetisch durch. „Vor eineinhalb Millionen Jahren gab es nur ganz wenige Eulen. Dass wir heute beide Extreme haben, ist das Ergebnis der Sozialisation des Menschen“, stellt der Chronobiologe fest. Bis heute ist aber in unseren Genen festgelegt, ob wir morgens früh leicht aus dem Bett kommen und abends früher müde werden oder eben nicht. „Den Chronotyp erben wir von
unseren Eltern und Großeltern.“ Es gibt dabei nicht nur Lerchen und Eulen, also die beiden Extreme. Der Chronotyp der meisten Menschenliege dazwischen, sagt Stehle. Und sogar Tiere hätten eine innere Uhr, vom Einzeller bis zum Säugetier. Wer jetzt verwundert einwirft, dass doch vor allem Jugendliche generell schwerer aus dem Bett kommen als ältere Menschen – auch dafür hat der Chronobiologe eine Erklärung: „Die innere Uhr altert, wie alles an unserem Körper. Wir sind eigentlich nur für 30 Jahre gemacht. Vor eineinhalb Millionen Jahren war in diesem Alter der Nachwuchs flügge und unsere Aufgabe erledigt.“ Das Altern sorge dafür, dass wir mit zunehmenden Jahren immer „lerchenhafter“ werden, sprich, immer früher aufstehen. „Kinder und Jugendliche sind am meisten eulenhaft, daher ist es völlig gegen ihre Natur, dass sie so früh zur Schule müssen. Aber das dringt nur langsam in das Bewusstsein der Gesellschaft“, plädiert der Wissenschaftler dafür, generell mehr auf die innere Uhr zu hören.
Mehrere innere Uhren Wobei wir genaugenommen gleich mehrere innere Uhren besitzen. Denn Wissenschaftler haben mittlerweile festgestellt, dass jedes Organ und sogar Muskeln und Knochen einen eigenen inneren Ablauf besitzen, nach dem Prozesse nur zu bestimmten Zeiten in Gang gesetzt werden.
„Sie werden gesteuert von der zentralen inneren Uhr im Zwischenhirn“, sagt Stehle. So sorgt der Körper beispielsweise dafür, dass abends
Hormone wie Melatonin ausgeschüttet werden, damit wir müde werden oder sich nachts unsere Herzfrequenz verringert, die Körpertemperatur sinkt und die Leber zu arbeiten beginnt, um zu entgiften. „Wenn ich der erste war, der aus der Höhle kam, war ich auch der erste bei der Nahrung und dem Paarungspartner. Das ist ein Selektionsvorteil.“
Chronobiologe und Triathlet: Professor Dr. Jörg Stehle fährt regelmäßig mit seinem Rad vom Wohnort Mainz in sein Büro in der Frankfurter Uniklinik.
Fotos: Lucas
Damit beeinflusst der innere Zeitmesser weit mehr als nur unseren Schlaf, wie derWissenschaftler festgestellt hat, der sich vor allem mit der aus ihm folgenden unterschiedlichen Leistungsfähigkeit beschäftigt. So laufen die Verdauung oder die Stoffwechselprozesse in der Leber ebenfalls nur zu bestimmten Zeiten ab. „Nimmt man die Nahrung außerhalb dieser Zeit, also beispielsweise nachts zu sich, dann lagert die Leber die Fette ein, statt sie abzubauen. Das ist eines der Probleme der Schichtarbeiter, die häufig unter Übergewicht leiden.“
Professor Dr. Jörg Stehle im Interview
„Wer langfristig gegen seine innere Uhr lebt, leidet an einem ‚social jetlag’ und steigert sein Risiko für Herzinfarkt, Krebs, Fettleibigkeit und neuronale Degeneration dramatisch.“ Prof. Dr. Jörg Stehle
Generell gilt, wer langfristig gegen seine innere Uhr lebt, weil der Wecker ihn Stunden vor seinem natürlichen inneren Rhythmus aus dem Bett klingelt, lebt nicht gesund. „Man leidet dann an einem ‚social jetlag’. Heute weiß man, dass dabei das Risiko für Herzinfarkt, Krebs, Fettleibigkeit und neuronale Degeneration dramatisch steigt.“ Auch das Immunsystem sei abhängig von der inneren Uhr, erläutert der Chronobiologe weiter und nennt ein Beispiel: „Es kommt immer wieder vor, dass Menschen, die einen Jetlag haben, sich dazu eine Erkältung holen.“ Und selbst bei Medikamenten geht die Wissenschaft mittlerweile davon aus, dass es Zeiten gibt, zu denen sie besser wirken. „Die Chronopharmakologie ist ein noch junger Zweig der Wissenschaft. Man stimmt mittlerweile etwa die Medikamente bei bestimmten Krebsarten auf den Zellteilungszyklus des Erkrankten ab. Dann kann man sie geringer dosieren“,
erläutert der Wissenschaftler. Noch präziser wäre es, dazu auch die innere Uhr des Patienten zu kennen, findet er. „Das wäre wünschenswert, um den Menschen das Leben zu erleichtern.“ Leistungsunterschiede von 20 Prozent Das Hauptaugenmerk Stehles liegt allerdings auf der Leistungsfähigkeit im Spitzensport. Dafür hat er seinen Beruf und sein Hobby kombiniert. Stehle selbst ist seit 40 Jahren Leistungssportler, war Zehnkämpfer, Basketballer, Radsportler und ist heute Duathlet und Triathlet. In seinem Büro steht sein markantes gelb-rotes Rennrad, mit dem er von Mainz aus regelmäßig in die Uniklinik fährt. Drei Mal war er schon Duathlon-Europameister, dazu Vize-Weltmeister in seiner Altersklasse und nahm vor fünf Jahren sogar am härtesten Triathlon der Welt, dem Ironman auf Hawaii, teil. Damals machte er sich allerdings noch keine Gedanken über seine innere Uhr. Das
ist heute anders. Mittlerweile berät er Leistungsportler, vor allem Triathleten, dabei, wie sie im Einklang mit ihrer inneren Uhr bessere Leistungen erbringen können. „Das Leistungsmaximum bei Menschen ist völlig unterschiedlich, je nachdem, welcher Chronotyp sie sind. Für eine ausgeprägte Lerche mag also ein Wettkampfbeginn um sieben Uhr morgens gut sein, für eine Nachteule ist er ein Graus. Umgekehrt kommt die Eule erst am Spätnachmittag
so richtig in Schwung, wenn die Lerche schon ein wenig ‚schlapper singt‘“, schreibt er auf seiner Website sport-jetlag.com. In der wissenschaftlichen Literatur seien tageszeitabhängige Leistungsunterschiede von mehr als 20 Prozent beschrieben worden. Zunächst ermittelt Stehle also den Chronotypen des jeweiligen Sportlers. Dafür hat er eigens einen detaillierten Fragebogen entwickelt. „Ich frage zum Beispiel danach, wann der Sportler in seinem letzten Urlaub, wenn kein Wecker geklingelt hat, aufgestanden ist. Oder ich lasse ihn für ein paar Tage eine Aktivitätsuhr tragen.“
Der Geist will Höchstleistung, der Körper schläft Noch wichtiger wird seine Beratung bei internationalen Wettkämpfen. Denn wohl jeder Sportler will, wenn der Startschuss fällt, topfit und hochkonzentriert an der Startlinie stehen. Bei Meisterschaften außerhalb Europas ist das nicht immer einfach. Bei den Höhlenmenschen war das Verändern der inneren Uhr durch einen Flug nach Übersee einfach nicht vorgesehen. Wer ein oder zwei Tage vor dem Ironman in Kona ankommt, hat beim Start gegen sechs Uhr morgens Ortszeit daher meist ordentlich mit dem Jetlag zu kämpfen. „Da kann man zu Hause noch so harttrainieren, viel Geld für Material ausgeben und an allen Stellschrauben gedreht haben, um fit zu sein. Der Körper schläft noch, auch wenn unser Geist Höchstleistungen abrufen will.“ Langfristig kommt man gegen die innere Uhr nicht an, sagt Prof. Stehle. Doch kurzfristig kann man gegen den Jetlag durchaus etwas ausrichten. Die innere Uhr braucht für den Ausgleich einer Stunde Zeitverschiebung mindestens einen vollen Tag, lautet die Formel. „Manche adaptieren schneller,
manche brauchen länger.“ Für eine Verschiebung von zwölf Stunden, wie für den Ironman auf Hawaii, braucht man daher mindestens zwölf Tage. Was kann man also tun, wenn man schon allein aus finanziellen Gründen nicht knapp zwei Wochen vor dem Wettkampf auf Hawaii anreisen kann, wie die Top-Favoriten? „Es bedarf eines ebenso professionellen Managements der Jetlag- Adaption, wie man den Luftdruck am Rennrad checkt oder die Sprengung der Laufschuhe aussucht“, sagt Stehle und wundert sich darüber, dass selbst große Sportverbände das Phänomen nicht auf dem Schirm haben. Bislang sei er neben einer Frau in Australien der einzige, der eine solche Beratung professionell mache. Tricks für Manager und Schichtarbeiter Seine Idee: „Kennt man dank vorheriger Analyse den Chronotyp des Sportlers, kann man die Anpassungszeit am Wettkampfort erheblich abkürzen.“ Sprich, man beginnt bereits vor dem Abflug nach Hawaii damit, die innere Uhr zu verstellen. Dazu gehöre unter anderem, dass man jeden Tag etwas später isst, zu Bett geht und aufsteht, dass man durch das Tragen einer Sonnenbrille den Lichteinfall abmildert oder die Trainingszeiten
anpasst, verrät er. Die effizienteste Methode, die innere Uhr zu verschieben, ist blaues Licht. Es reizt Zellen imAuge, die dem Körper signalisieren, dass dieser wach sein muss. Jörg Stehle hat daher in seinem Büro immer eine Blaulichtbrille liegen. „Man setzt sie 20 Minuten lang auf, sieht dabei nur einen leichten blauen Schimmer, aber sie verstellt die innere Uhr.“ Ein weiteres Hilfsmittel ist das Melatonin, das man auch per Spray oder Tablette
zuführen kann, um gegen den inneren Rhythmus müde zu werden. Jörg Stehle nutzt diese Hilfsmittel auch für sein persönliches Training. Er arbeitet daran, noch einmal selbst am Ironman teilzunehmen, und will in seiner Altersklasse sogar aufs Treppchen kommen. Als „passable Lerche“, wie er sich selbst bezeichnet, schreckt ihn der frühe Start schon mal nicht. Triathleten seien überwiegend Lerchen, stellt er fest, da die Startzeiten immer sehr früh lägen. „Mehr als 50 Prozent der Schwimmer sind ebenfalls Lerchen. Bei den Fußballern ist eine große Prozentzahl eher eulenhaft, weil die Spiele
abends stattfinden.“ Man suche sich seinen Beruf oder seinen Sport unbewusst nach dem Chronotypen aus, glaubt er. Eine Eule würde demnach eher nicht Bäcker werden. Seine Erkenntnisse nutzen aber nicht nur Sportlern. Auch für Manager, die viel fliegen und bei
Konferenzen in Übersee fit sein müssen, gelten die gleichen Regeln. „Auch sie können die innere Uhr bereits vorher verstellen, während des Flugs bestimmte Wachzeiten einhalten und die Blaulichtbrille nutzen.“ Und selbst Schichtarbeitern oder anderen Frühaufstehern könne es helfen, morgens eine solche Brille zu nutzen oder, wenn es bereits hell ist, aus dem Haus zu gehen, um Licht zu tanken. Auch Kaffee, Musik oder viel reden helfe dabei, wach zu werden und die innere Uhr für den nächsten Tag ein wenig zu verstellen, empfiehlt der Experte. Nur langfristig funktioniert das nicht, gibt Prof. Jörg Stehle zu bedenken: „Spätestens im Urlaub stellt sich die innere Uhr von selbst wieder zurück.“
„Auch Manager, die viel fliegen und bei Konferenzen in Übersee fit sein müssen, können die innere
Uhr bereits vorher verstellen. “ Prof. Dr. Jörg Stehle